Im Jahr 1851 kam es im Zusammenhang mit der Fronleichnamsprozession des Jahres zu einem folgenschweren Eklat, weil die Schützengesellschaft Attendorn einen Juden an exponierter Stelle beteiligt hatte. Dies brachte den Schützen einen kirchlichen Bann ein, der erst nach 75 Jahren aufgehoben wurde.
Heute - im Jahr 2018 - haben sich viele Schützengesellschaften im Sauerland weitestgehend geöffnet. So sind zum Beispiel muslimische Schützenbrüder erwünscht (und wurden auch schon König), auch die sexuelle Orientierung spielt (hoffentlich...) keine Rolle mehr in den Schützenvereinen der Region.
Die Attendorner Schützengesellschaft zeigte sich schon Mitte des 19. Jahrhunderts liberaler als andere Gesellschaften, denn die Aufnahme von Juden war in der Hansestadt kein Problem. Dennoch kam es im Jahr 1851 aus damaliger Sicht fast zu einer Katastrophe bei der Fronleichnamsprozession, die für die katholische Kirche einer Gotteslästerung gleichkam. Man hatte nämlich u. a. den Juden Sotig Mai in eine der Iserkopprüstungen ("Iserköppe" = "Eiserne Köpfe"; dem Volksmund nach handelt es sich um Rüstungsteile der schwedischen Belagerer Attendorns während des 30-jährigen Krieges, Anm. d. Red.) gesteckt.
In dem Buch "Jüdisch in Attendorn" von Hartmut Hosenfeld schreibt Attendorns Stadtarchivar Otto Höffer dazu:
Der Hintergrund dieser Freveltat war folgender: Es war in dieser Zeit üblich, dass die Iserköppe an der Spitze der Fronleichnamsprozession gingen, außerdem wurden durch die Schützen an jeder Poote Gewehrsalven abgeschossen. Nach der Fronleichnamsprozession führten die Schützen dann den Trillertanz auf. Nun war es üblich, dass immer die jüngsten Schützenbrüder die Iserköppe anzuziehen hatten. Da 1851 auch der Jude Sotig Mai neu in die Schützengesellschaft aufgenommen worden war, musste er selbstverständlich in die Rüstung schlüpfen. Allerdings kam die Sache heraus.
Wegen dieser empörenden Vorkommnisse wurden den Schützen durch Erlass des Generalvikariats vom 10.7.1851 die Begleitung der Fronleichnamsprozession, das Vortragen der Schützenfahne bei kirchlichen Feierlichkeiten und Beerdigungen, auch der übliche Opfergang um den Altar bei Seelenämtern, kurz jede Betätigung des kirchlichen Charakters verboten.
Wie die größte Mehrheit der Schützen, so beklagte insbesondere die Sebastianskonfraternität dieses Verbot. Sie bemühte sich wiederholt, eine Zurücknahme dieses bischöflichen Verbotes zu erreichen, jedoch vergeblich. Wie später bekannt wurde, war der Demokrat Justus Plange, der schon 1848 im Rahmen der Revolution das Volk aufgewiegelt hatte und später nach Paris flüchten musste, der Drahtzieher gewesen.
Jedenfalls ließ die Vernehmung des Juden Sotig Mai nicht erkennen, dass dieser selbst sich einen üblen Streich erlauben wollte. Er sagte am 23.06.1851 folgendes aus:
"Ich bin als Schütze der hier bestehenden Schützenkompagnie in diesem Jahre aufgenommen und bin von dem Schützenvorstande authorisiert, in der Rüstung resp. Helm und Harnisch, als jüngster Schützenbruder die am Fronleichnamstage d. J. stattgehabte kirchliche Prozession in der Schützenkompagnie zu begleiten, welches ich denn auch getan habe. Die Rüstung, welche ich bei dieser Prozession getragen, habe ich durch meinen Oheim diesen Morgen bereits an den Polizeidiener Hubert abliefern lassen.“
Erhitzte Gemüter in Attendorn
Am 25. Juni berichtete Bürgermeister Becker an den Landrat über die Vorkommnisse bei der Attendorner Fronleichnamsprozession. Die folgenden Auszüge aus den Ratsprotokollen - ungekürzt wiedergegeben - sollen belegen, wie sehr und über welch einen langen Zeitraum sich die Gemüter in Attendorn über diesen Vorfall erhitzten:
Nr.86, 1851 Juni 25: BM Becker an Landrat, das Schützenfest in Attendorn, insbesondere die Untersagung des Schützenfestes und die desfalsige Beschwerde des Schützenvorstandes betreffend. Die Schützen in Attendorn haben einen doppelten Charakter, den der kirchlichen Bruderschaft und den einer gewöhnlichen Schützengesellschaft. Sie sind bei kirchlichen Prozessionen durch ihre Fahnen vertreten (die Bruderschaft) und begleiten die Fronleichnamsprozession. Ferner wird auf den Patronatstagen St. Sebastian und Anna ein feierliches Hochamt gehalten. Dann besteht eine Confraternität von 12 Prinzipalen, die aus dem Schützenvorstand gewählt und ergänzt werden, welchen das Patronatrecht einer Vikarie zusteht und von jeher ausgeübt haben. Diese Schützengesellschaft stand von jeher unter der Aufsicht des Stadtvorstandes. Neuaufnahmen mussten sogar durch diesen bestätigt werden. Die erste Kompagnie organisierte das gesamte Schützenwesen, beide Kompagnien standen friedlich nebeneinander. 1848 versuchte die demokratische Partei das friedliche Verhältnis zu untergraben. Dies ging soweit, dass einzelne Vorstandsmitglieder nachgaben und die Inventarstücke der 1. Kompagnie an eine einzige neue Kompagnie herausgaben.
Am 5. Juni 1849 kam es durch Vermittlung des BGM zu einer friedlichen Einigung und Vereinigung zu einer Kompanie. Damit schien das Problem gelöst. Doch ließen sich in die neue Kompagnie vorwiegend Personen aufnehmen, die vor allem die bruderschaftlichen und kirchlichen Aspekte ins Lächerliche zogen, wodurch neue Zwistigkeiten entstanden. Der Stadtvorstand griff erneut ein und verbot das Schützenfest. Darauf verbürgten sich die alten Schützen persönlich für einen friedlichen Ablauf des Festes. Draufhin nahm der Stadtvorstand das Verbot zurück und das Fest verlief auch tatsächlich ohne Störungen. Doch hat man am Fronleichnamstag einen Juden in eine Schwedenrüstung gesteckt, die gewöhnlich an diesem Tage von den Schützen getragen wird, was natürlich von der geistlichen Obrigkeit aufs Schärfste verurteilt wurde. Daß der Trillertanz jedes Jahr gehalten wird, darauf muß am stärksten geachtet werden, weil hierdurch das historische Element erhalten wird.
Nr. 96 1851 Juni 23: Vernehmungsprotokoll des Juden Sotig Mai, der bei der Fronleichnamsprozession in der Schwedenrüstung, Helm und Harnisch, mitgegangen war. Am 26.6.1851 wurde Pfarrer Pielsticker von diesem Protokoll in Kenntnis gesetzt.
Nr. 97 1851 Juli 23: LR Freusberg ordnet die Versammlung des Schützenvorstandes an, um die vorherige Beschwerde zu behandeln.
Nr. 98 1851 Oktober 18: LR Freusberg verlangt binnen 14 Tagen einen weiteren Bericht über die Regelung des Schützenwesens. BGM Becker vermerkt, daß er dieses am 11. 11. erledigt habe.
Nr. 99 1851 Juli 19: Abschrift eines Schreibens von Pfarrer Pielsticker an BGM Becker. Pielsticker teilt mit, daß das Generalvikariat jeglichen Auftritt der Schützen bei kirchlichen Anlässen untersagt habe. Außerdem sei das Trommelrühren bei der Schützenmesse untersagt. Pielsticker verurteilt aufs Schärfste den Vorfall bei der Fronleichnamsprozession. Dieses Schreiben leitet BGM Becker am 22. Juli an die Schützenvorstände weiter. Der Schützenvorstand antwortet am 30. Juli und erklärt sich bereit, die Satzungen dahingehend zu ändern, daß künftig kein Nichtkatholik an kirchlichen Feierlichkeiten bei den Schützen teilnehmen dürfe. Pielsticker schreibt nach dem 1.11. an BGM Becker, daß momentan eine Aufhebung des Verbotes seitens der kirchlichen Behörde nicht zu erwirken sei.
Nr. 111 1851 Oktober 29: BGM Becker lädt die bisherigen und jetzigen Schützenvorstände zu einer weiteren Besprechung zwecks Einigung für kommenden Freitag, den 31. 10. um 3 Uhr auf den Bürgersaal ein.
Nr. 113 1851 November 1: Der BGM Becker berichtet dem LR, daß in Anbetracht der verschärften Lage durch das Verbot der bischöfl. Behörde momentan eine Einigung nicht zustande kommen könne“.
75 Jahre kirchlicher Bann
Am 1. Juli 1988 griff die Westfalenpost diesen Vorfall in ihrem Vorbericht zum bevorstehenden Schützenfest noch einmal auf.
„Bei der Fronleichnams-Prozession kommt es dann zum Eklat, als, wie Pfarrer Pielsticker es dem Bürgermeister Becker schreibt, die Schützengesellschaft ohne Rücksichtnahme auf den kirchlichen Charakter, den die Gesellschaft ursprünglich hatte, ohne Rücksicht darauf, dass derselbe nicht aufgegeben werden dürfe, wenn dieselbe als solche bestehen bleiben solle, ...ohne Rücksicht auf Kirchen- und Gottesgebote es sich hatte einfallen lassen, in diesem Jahr einen Juden ihrem Zug bei der den katholischen Christen so heiligen Fronleichnams-Prozession an die Spitze zu stellen (dieser trug die alte Schwedenrüstung).
Daraufhin verbot das bischöfliche Generalvikariat in Paderborn jede Beteiligung der Schützen bei kirchlichen Veranstaltungen. Das Band war zerschnitten. Versuche, die Schützen wieder in der bisherigen Form an der Fronleichnams-Prozession zu beteiligen, scheiterten. Ab 1861 unternahmen die Schützen nach der Prozession eine eigene Parade, am 18. April 1863 beschloss man, alle Bestimmungen, welche sich auf die Begleitung der Fronleichnamsprozession und die Beteiligung des Schützenkorps an den sonstigen Feierlichkeiten beziehen, zu suspendieren. Die Trennung war endgültig vollzogen. Ein 1891 gestellter Antrag der Schützen auf Lesung einer Schützenmesse wurde abgelehnt, die Schützen ließen daraufhin privat auf dem Schützenfest Messen für die verstorbenen Schützenbrüder lesen. Erst nach Beendigung des Ersten Weltkrieges durfte 1920 zum ersten Mal wieder in Attendorn das alte Schützenhochamt gelesen werden, das wieder ein fester und beliebter Bestandteil des Schützenfestes geworden ist. An der Fronleichnams-Prozession beteiligen sich die Schützen wieder seit 1926; Vorstandsmitglieder tragen den Baldachin über dem Allerheiligsten, die Könige tragen die Fahnen.“
"Eiszeit zwischen Schützen und Kirche"
In einem weiteren Artikel vom 25.07.2016 erinnerte Martin Droste von der Westfalenpost ebenfalls an den "Skandal" von 1851:
Quellen:
Hartmut Hosenfeld: "Jüdisch in Attendorn. Die Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinde in Attendorn." (Jüdisches Leben im Kreis Olpe, Band IV. Attendorn, 2006)
Otto Höffer, Stadtarchiv Attendorn
Martin Droste u.a., Westfalenpost, Lokalteil Attendorn