1882 - 1936
Julius Ursell wurde am 29. August 1882 als fünftes von sieben Kindern der Eheleute Josef und Minna Ursell, geb. Schöneberg, in Attendorn geboren. Julius war der jüngste der vier Ursell-Brüder.
Er besuchte zunächst die evangelische Volksschule und dann das städtische Gymnasium in Attendorn. Dort war er Mitglied des gymnasialen Musikchores und des gymnasialen Turnvereins, wie ein Foto aus dem Jahr 1901 belegt:
Zunächst medizin-Studium in Freiburg
Nach dem Abitur studierte er zunächst Medizin in Freiburg, musste aber das Studium vor dem Erreichen eines medizinischen Grades abbrechen, um in die Fa. A. A. Ursell einzutreten. Bis zum Tode seines Bruders Albert war er für die technischen Belange und anschließend auch für die finanziellen und personellen Aufgaben der Firma verantwortlich.
Als Soldat im 1. Weltkrieg: das Eiserne Kreuz landete im Listerstausee
Julius Ursell nahm als einfacher Soldat, ohne Dienstrang, am 1. Weltkrieg teil. Während seiner Militärzeit sollte Julius Ursell nach dem Wunsch seiner Vorgesetzten in eine Offizierslaufbahn eintreten. Er lehnte das aber mit der Begründung ab: „Ich kann dem Vaterland genau so gut als einfacher Soldat dienen wie als Offizier.“ Er kehrte desillusioniert über die Grausamkeiten des Krieges von der Ostfront nach Attendorn zurück.
In einem Brief beschrieb Margret Ursell ihren Vater:
„My father fought as a private at the front during the first World War and came home very desillusioned by violence, particularly as a solution for international disagreements. He was always a seeker, interested in Indian philosophies and anthroposophy, and in the early 1930`s joined the Quakers (also known as Gesellschaft der Freunde). He was one of the few persons in Attendorn who knew of and admired Albert Schweitzer. He was very concerned about the welfare of his employees and of the Attendorners in generally.“
"Mein Vater kämpfte als einfacher Soldat an der Front während des Ersten Weltkrieges und kam durch die erlebte Gewalttätigkeiten, insbesondere als Lösungsmöglichkeit für internationale Zwistigkeiten, sehr desillusioniert zurück. Er war immer ein Suchender, interessiert an indischen Philosophien und Anthroposophie, und in den frühen 30er Jahren trat er den Quäkern bei (auch bekannt als Gesellschaft der Freunde). Er war eine der wenigen Personen in Attendorn, die Albert Schweitzer kannten und bewunderten. Er kümmerte sich sehr um das Wohlergehen seiner Beschäftigten und der Attendorner im allgemeinen."
Frank Selker, ein Enkel von Julius Ursell, erzählte dem Verfasser beim Besuch in Attendorn am 12.05.2006:
„Mein Großvater, Julius Ursell, soll - laut Familienerzählung - das Eiserne Kreuz, das ihm im 1. Weltkrieg verliehen worden war, aus Entsetzen über das im Krieg Erlebte in den Listerstausee geworfen haben.“
Hochzeit Mit Martha Kahn - Drei Kinder
Bei einer Feier mit weitläufigen Verwandten lernte Julius Ursell „unter Mithilfe einer Tante“ Martha Kahn, geb. am 10.08.1888 in Eschwege, kennen. Am 24. Dezember 1913 heiratete er sie in Eschwege.
Das Ehepaar hatte drei Kinder:
1. Erich Albert Josef
geb. 10.01.1915
gest. 10.07.1995 in USA
2. Margarethe (Margret)
geb. 10.02.1918
gest. in den USA
3. Liselotte (Lisa)
geb. 20.11.1919
gest. 1974 in USA
Die Kinder besuchten die evangelische Volksschule am Südwall. Sie mussten nicht am evangelischen Religionsunterricht teilnehmen, sondern hatten in den Unterrichtsstunden, in denen der Religionsunterricht für die anderen Kinder der Klasse erteilt wurde, Freistunden. Den speziellen jüdischen Religionsunterricht und den Unterricht in hebräischer Sprache erhielten sie zusammen mit den anderen jüdischen Kindern aus Attendorn im Hause von Karl Ursell durch den jüdischen Lehrer Leopold Hartmann aus Iserlohn. Nach der Volksschulzeit besuchten die beiden Mädchen das St. Ursula-Lyzeum, der Sohn Erich das Jungengymnasium in Attendorn.
Erich flüchtete noch vor dem November 1938 nach England, um von dort 1940 in die USA auszuwandern. Seine Schwestern Liselotte und Margarethe folgten im November 1938.
Zudem lebte Anna (genannt "Nana") Kahn im Haushalt der Familie Ursell. Sie war die Adoptivtochter des Bruders von Martha Ursell, Otto Kahn. Als dieser in den 1920er-Jahren in Mailand starb, wurde Nana zur Familie Ursell nach Attendorn geschickt.
1929 machte Nana Kahn als erstes Mädchen am Attendorner Gymnasium das Abitur.
Umzug in die "Villa Zion"
Die Familie wohnte zunächst im Haus der Familie Ursell an der Kölner Straße. Anschließend bezog die Familie das neu erbaute Haus in Attendorn, Waldenburger Weg 5. Diese Villa wurde 1925 für 100 000 Mark (Angaben aus der Wiedergutmachungsakte) erbaut und im Attendorner Volksmund „Villa Zion“ genannt. Zum Grundstück der Familie Julius Ursell gehörte ein großer privater Tennisplatz.
Im September 1930 traf sich die Familie zu einem Familienfest im Garten der Villa am Waldenburger Weg:
hinten v. links: Nana Kahn, Erich Ursell, Otto Kahn, Julius Ursell, Günther Ursell
mittlere Reihe v. links: Julia Kahn, Martha Ursell, geb. Kahn
vorne v. links: Lisa Ursell, Grete Kahn, Margret Ursell
Die Firma A. A. Ursell
Als wichtiger Arbeitgeber für die Attendorner Bevölkerung bis zum Jahr 1938 muss die Firma A. A. Ursell genannt werden.
Die Anfänge einer der größten Firmen in Attendorn gehen auf Aaron Abraham Ursell (04.10.1802-25.12.1882), den Begründer des Familienbetriebes Ursell, zurück. Er erbte den Geleitbrief seines Vaters und konnte als Schutzjude neben dem Metzgergewerbe auch Handel betreiben.
Er gründete außerhalb von Attendorn am Ollerschott mit sieben Arbeitern in einer alten Baracke eine kleine Fabrik, die sich mit der Produktion von Weißblech- und Zinkwaren befasste. In ihren Briefköpfen gab die Firma als Gründungsjahr bzw. als Datum der Stammhausgründung das Jahr 1764 an, wobei sich dieses Datum nicht auf die Blechwarenfabrik beziehen kann, sondern bei der Wahl dieser Angabe wohl der Zeitpunkt der Übersiedlung des Stammvaters der Familie, Aaron Lazarus, nach Attendorn als Gründungsjahr gewählt wurde.
Josef Ursell (1838-1898) folgte seinem Vater nach dessen Tod als alleiniger Inhaber des Unternehmens. Er erweiterte den ererbten Betrieb, erwarb an der Kölner Straße ein großes Gelände und einen Fabrikkomplex, bestehend aus Fabrikgebäude, Bürohaus und Wohnhaus.
In den folgenden Jahren entwickelte sich die Firma A. A. Ursell zu einer der führenden Blechwarenfabriken Deutschlands.
Am 22. April des Jahres 1883 gliederte sich das Gesamtunternehmen in eine Bijouteriefabrik - (Broches, Krawattennadeln, Federhaken, Federringe, Kollierschlößchen, Karabiner, Charniere und Ösen, Uhrenkegel usw.). Alle diese Gegenstände konnten in Stahl, Messing, Tombach, Neusilber und Argentan geliefert werden;. Außerdem konnten alle diese Waren vernickelt werden, - und in eine Verzinkerei, deren Spezialität Transportflaschen, Hobbocks, Fetteimer und Lagerstandgefäße waren. Außerdem gehörte eine Blechwarenfabrik zu dem Komplex an der Kölner Landstraße.
Nach dem Tode von Josef Ursell 1898 traten neben der Ehefrau des Verstorbenen, Minna Ursell, auch die erwachsenen Söhne, die Kaufleute Albert und Karl Ursell, als Gesellschafter in die Firma ein.
1921 waren bei der Firma A. A. Ursell 35 Angestellte, 176 Arbeiter, 2 Schwerkriegsverletzte und 1 Eisenbahn-Transportverletzter beschäftigt. Damit war diese Firma der zweitgrößte Arbeitgeber in Attendorn.
Julius Ursell musste vor dem Erreichen eines medizinischen Grades das Studium in Freiburg abbrechen, um in die Fa. A. A. Ursell einzutreten. Bis zum Tode seines Bruders Albert war er verantwortlich für die technischen Belange und anschließend auch für die finanziellen und personellen Aufgaben der Firma.
(Anm.: Die Metallwarenfabriken A. A. Ursell O.H.G. in Attendorn und Sohler`sche Eisenwerke GmbH in Listernohl gingen nach gezielten Verhängungen von Kontingentsperren am 18. Juni 1938 in den Besitz der Firmen Tielke & Hommerich Attendorn und Pass & Co. in Weidenau (Sohler`sche Eisenwerke) über.)
Aus der Fabrik zum Gottesdienst
Erich Ursell schrieb über seinen Vater:
„Julius Ursell war nicht sehr religiös; er nahm nur an den Gottesdiensten an den hohen Feiertagen teil, um seiner Mutter einen Gefallen zu tun. Minna Ursell, seine Mutter, war jüdisch orthodox orientiert. Julius musste oftmals aus der Fabrik geholt werden, wenn die erforderliche Anzahl der erwachsenen Männer (Minjan) zum Abhalten des Gottesdienstes nicht vorhanden war.“
Die Familien Ursell gehörten zu den sog. „emancipated German Jews“ ( E. Ursell, a.a.O.), also zu den Befürwortern des Reformjudentums.
Die Minna-Ursell-Stiftung
Gemeinsam mit seinem Bruder Albert gründete Julius Ursell die Minna-Ursell-Stiftung, um das Vermächtnis seines Großvaters Aaron Ursell zu erfüllen. Diese Stiftung erwies sich als äußerst segensreich für die Attendorner Bevölkerung in den schweren Zeiten nach dem ersten Weltkrieg.
Die Familie Ursell kümmerte sich somit nicht nur um die Angehörigen im Betrieb der Firma A. A. Ursell, sondern linderte auch durch die Stiftung oftmals durch Geld- oder Sachspenden die Not der Attendorner Bevölkerung nach dem ersten Weltkrieg und in den Jahren der Inflation und der großen Arbeitslosigkeit.
"My father was an enthusiastic Attendorner" - Schützenverein, Turnverein und SGV
In dem o. a. Brief schrieb Erich Ursell weiter über seinen Vater:
„My father was an enthusiastic Attendorner, activ in Turnverein and Schützenverein and tried unsuccessfully to become a Schützenkönig. He was also activ in Sauerländische Gebirgsverein (where I helped him mark trails as we hiked through the woods) and was very interested in Jugendherbergsbewegung. On Sunday morning he met with kindred souls zum Frühschoppen in Hotel Peiffer.“
"Mein Vater war ein begeisterter (echter) Attendorner, im Turnverein und Schützenverein aktiv und versuchte vergeblich, Schützenkönig zu werden. Er war auch aktiv im Sauerländischen Gebirgsverein (wo ich ihm bei der Markierung der Wege half, wenn wir durch die Wälder streiften) und war sehr interessiert an derJugendherbergsbewegung. Am Sonntagmorgen traf er sich mit gleichgesinnten Seelen zum Frühschoppen im Hotel Peiffer."
Hermann Stern und Julius Ursell waren die letzten jüdischen Schützenbrüder in Attendorn. Das Protokoll über die Sitzung des Schützenvorstandes vom 26.10.1933 gibt Auskunft über den Austritt der beiden o. a. Schützenbrüder: „Die Versammlung nimmt Kenntnis von dem erfolgten Austritt der beiden Schützenbrüder Hermann Stern und Julius Ursell, welche immer recht treue Schützenbrüder gewesen sind.“
Tod in Belgien 1936
Anfang des Jahres 1936 unterzog sich Julius Ursell einer 18-tägigen Hungerkur im Sanatorium eines befreundeten Arztes in Bad Pyrmont. Die Kur war nach Aussagen von Erich Ursell „teilweise ein religiöses Experiment“.
Im Februar desselben Jahres erkrankte er auf einer Geschäftsreise in Belgien - dort hatte er sich mit einem Interessenten zu Verkaufsverhandlungen der Fa. A. A. Ursell getroffen - an einer Blasenentzündung, die sich rapide verschlimmerte. Am 22.02.1936 verstarb er an den Folgen einer Blasennotoperation im Krankenhaus, Boulevard Adolphe Max 7-9, Brüssel, abends um ½ 7 Uhr. Sein Tod wurde von Hiel Helman, einem Industriellen aus Anderlecht (vermutlich ein Kaufinteressent) und einem Amtsdiener bezeugt:
„Stadt Brüssel Im Jahr 1936, am 25. Februar, 10 Uhr vormittags, stellen wir Conrad Verhaeghe de Naeyer, Standesbeamter der Stadt Brüssel, die Sterbeurkunde von Julius Ursell, Industrieller, verstorben am 22. diesen Monats abends um sechs ½ Uhr, Boulevard Adolpe Max, Nr. 7-9, vierte Abteilung, geboren in Attendorn ( Westfalen- Deutshland) am 29. August 1882, hier wohnhaft; verheiratet mit Martha Kahn ohne Beruf; Sohn des Joseph Ursell und der Minna Schönberg, beide verstorben, aus. Durch Benachrichtigung durch Hiel Helman, Kaufmann, 58 Jahre alt, wohnhaft in Anderlecht und von Francois Delbrassine, Bürogehilfe, 62jährig, wohnhaft in Ixelles. Nach dem Durchlesen haben wir mit den Anzeigenden unterschrieben.“
Seine Leiche wurde nach Hagen überführt und die Urne später auf dem Attendorner jüdischen Friedhof beigesetzt (Foto links, Anmerkung: dies ist das einzige Grab auf dem Jüdischen Friedhof in Attendorn, dessen Grabstein nicht Richtung Jerusalem ausgerichtet ist).
Über seinen Tod berichtete das Attendorner Volksblatt:
„Rasch tritt der Tod den Menschen an. Am 22. Februar starb auf einer Geschäftsreise infolge Schlaganfalls Herr Fabrikbesitzer Julius Ursell. Ganz unerwartet hat ihn der Tod in den besten Lebens- und Schaffensjahren fern von seinen Lieben dahingerafft. Der Verstorbene war seit dem Tode seines Bruders Albert im Jahr 1928 Leiter der bekannten Firma A. A. Ursell. In unermüdlicher Schaffensfreude haben sie vereint aus kleinen Anfängen das Unternehmen zur heutigen Höhe gebracht. Mit der Familie betrauert die gesamte Gefolgschaft den frühen und plötzlichen Tod des Dahingeschiedenen.“
Quellen:
- Hartmut Hosenfeld, Buch "Jüdisch in Attendorn", Jüdisches Leben im Kreis Olpe, Band IV (2006), ISBN 978-3-9802697-6-6
- Nachlass der Familien Ursell
- Stadtarchiv Attendorn